Der göttliche Funke in der Musik
Meine Erfahrung als Dirigentin hat mir eine seltsame Idee in den Kopf gesetzt. Ich hoffe, sie eines Tages in die Praxis umsetzen zu können. Allerdings wäre es ein ungewöhnliches Vorgehen und verstieße gegen jede Form der Etikette, die von einem Dirigenten in der Öffentlichkeit erwartet wird:
Stellen Sie sich vor, zu Beginn des Konzerts verlässt der Dirigent das Orchester, nimmt im Publikum Platz und hört der Musik zu. Ich sehe das ironische Lächeln der Leute angesichts einer solchen Idee förmlich vor mir…. Ein Dirigent, der sich komplett zurückzieht und die gesamte Verantwortung der Aufführung auf das Orchester überträgt. Wie würde man das wohl nennen? Eine Farce? Nun, wir alle sind mit den Grundprinzipien des Dirigierens vertraut. Und insbesondere bei komplizierten Stücken erwarten Publikum wie Orchester einen Dirigenten.
Trotzdem…
Oft frage ich mich: “Welchen Zweck erfüllt mein Beruf? Wie stehe ich persönlich dazu?” Dann fängt mein Verstand schnell an, mit endlosen Argumenten meine Berufswahl rational zu erklären. Aber logisches Denken führt nicht unbedingt zur endgültigen Wahrheit.
Was zählt, ist das Herz. Daher sollte ich alle Vor- und Nachteile beiseitelassen und tief in mein Herz hineinhören, um eine endgültige Antwort zu erhalten. Vor allem, wenn es, wie bei mir, um einen Beruf geht, dessen Hauptziel es ist, der Musik Gestalt zu verleihen und ihr innerstes Wesen zu offenbaren. Ich erhebe keinen Anspruch auf Objektivität. Ich versuche nur, herauszufinden, wann ich authentisch bin.
Ich weiß sehr wohl, dass ich den Klang der Musik nicht höre, wenn ich nicht in der Lage bin, zuvor die Stille meines Herzens zu vernehmen. Wenn ich diesen innersten Klang nicht wahrnehme, biete ich Musikern und Publikum nicht mehr als Fachwissen über Musiknoten, schöne Handgesten oder eine für das Ohr angenehme Phrasierung sowie ähnlich Oberflächiges.
Wahre Musikalität liegt jenseits des Schleiers von Partituren. Sie ist vielmehr eine verborgene Schönheit, die Seelen weckt. Ohne ein Herz, das in der Lage ist, demütig zuzuhören, besteht jedoch die Gefahr, nur ein gewöhnlicher, pathetischer Musik-Praktiker zu sein, den man verherrlicht, weil er sich geschickt zu einer Marke aufgebaut hat. Es ist erstaunlich, wie oberflächlich dieser Beruf werden kann …
Mein Herz sagt mir, dass Dirigieren nicht nur ein Handwerk sein sollte. Der Verstand sollte sich vor Ihrer verborgenen Majestät, dem Herzen, verneigen, das die wahre Quelle der Musikalität ist. Ja, so ist es! Das selbstsüchtige “Ich” ist nicht die Quelle der Musik. Musik ist nicht Teil meines Egos. Musik dient nicht dem Zweck der Selbstverherrlichung. Musik steht nicht im Dienst menschlicher Interessen. Sie geht weit darüber hinaus. Sie ist ein Geschenk Gottes. Und wir wohnen diesem magischen Moment bei.
Manchem mag das zu poetisch klingen. Trotzdem….
Schauen wir zurück: Musik (die Kunst der Musen!) beschrieben die Vorfahren unserer Kultur als Zustand der heiligen Besessenheit, den sie Manie nannten.
Unbewusst sehnen sich Zuhörer wie Musiker immer nach DEM seltenen Moment während eines Konzerts, in dem die innersten Saiten ihres Bewusstseins durch die Musen berührt werden. Ganz so, als seien diese aus dem hohen Gewölbe des Auditoriums herabgestiegen, um die überirdische Natur der Musik und das bebende Herz des Zuhörenden in Einklang mit der göttlichen Harmonie zu bringen. In diesem Moment verlieren die Gesten des Dirigenten ihre Bedeutung. Sie werden nichtig, wenn Musik zum Klang der Ewigkeit wird.
Es ist der Moment des perfekten Ganzen. In diesem magischen Augenblick tritt der Dirigent zur Seite und überlässt dem Schöpfer die Bühne. So wie Gott bei der Erschaffung der Welt alles ansah „und siehe, es war sehr gut“, so taucht der Dirigent respektvoll ein ins Meer der Musik, ohne noch etwas zu tun.
Seien wir ehrlich. Es fällt nicht leicht zuzugeben, wie klein wir sind … angesichts dieser Ehrfurcht einflößenden Größe.
Ich muss zugeben, dass ich diese glückseligen Momente, in denen die Musen Besitz von mir ergreifen, viel zu selten erlebe. Die Schaffung eines perfekten Ganzen erfordert intensive und gemeinsame Anstrengungen. Es ist ein Weg, der mit Herzensdemut, der Bereitschaft zu dienen und großer Geduld gepflastert ist. Dies ist meine Antwort – ad se ipsum – auf die Frage des Dirigierens.
Tritt also mein Ego zurück, gebe ich meine Rolle auf und nehme meinen Platz im Publikum ein. Ich lasse den Schöpfer den Taktstock übernehmen.